Arbeiterkind, schwul, aus der Oberpfalz: Dieser Grüne soll Berlins Regierender Bürgermeister werden

Das muss man den Grünen lassen: Sie sind die Ersten. Mit der Ernennung von Werner Graf zum Spitzenkandidaten für die Berlin-Wahl im kommenden Jahr ist die Partei allen Mitbewerbern zuvorgekommen.
Die frühe Entscheidung kann sich noch als unschätzbarer Vorteil im Streit der Grünen mit der SPD um links-bürgerliche und mit den Linken um links-radikalere Stimmen erweisen. Beide müssen die Führungsfrage erst klären – und weder bei den Roten noch bei den Tiefroten gibt es klare Favoriten. Vor allem bei der SPD spricht alles eher für ein Hauen und Stechen als für eine einvernehmliche Lösung. Die ist ansonsten nur bei CDU und AfD zu erwarten. Die Nominierung von Kai Wegner beziehungsweise Kristin Brinker für kommendes Jahr ist reine Formsache.
Berliner Grüne: Mit ihrer Spitzenkandidatur kommen sie SPD und Linken zuvorDass es bei den Grünen zu dieser einvernehmlichen Lösung gekommen ist, liegt aber keineswegs an einer neuen Einigkeit in der so diskussionsfreudigen Partei. Die Entscheidung für den 45-jährigen Werner Graf fiel in Kungelrunden im berühmten Hinterzimmer. Und sie fiel nicht allen leicht.
Allein die Tatsache, dass Graf ein Mann ist, machte ihn nicht zum natürlichen alleinigen Spitzenkandidaten der Partei. Tatsächlich ist das neu. Bisher war Daniel Wesener einziger männlicher Grünen-Spitzenkandidat in Berlin – das war 2016, als er gleichberechtigt mit drei Frauen antrat. Die damals völlig zerstrittene Partei hatte sich nur auf ein Führungsquartett einigen können. Mehr ging nicht.
Das ist heute anders, dennoch kann Werner Graf als Mann ganz vorne in dieser frauenbewegten Partei niemals unumstritten sein. Bis er am Sonntag grünes Licht bekam, tagten mehrere Frauenrunden. Doch nachdem Bettina Jarasch zauderte, Lisa Paus nach ihrer allenfalls mittelmäßigen Performance als Bundesfamilienministerin absagte und auch Daniel Wesener dankend ablehnte, war die Bahn frei.
Wie alle bei den Grünen, die sich dieser Tage mit dem Thema Spitzenkandidatur befassten, tagten auch diese Frauenrunden geheim. Da blieb kein Platz für Basisdemokratie. Die von den bürgerlich geprägten Grünen im starken Bezirksverband Mitte eingeforderte Urwahl wurde von der Funktionärsebene abgelehnt. Stattdessen machten die Frauen Nägel mit Köpfen.
Werner Graf wird gut damit leben können, ersparte er sich mit der Kungelnummer ein womöglich schmerzhaftes Ergebnis. So eines wie im August 2022 zum Beispiel. Da stellte sich der bis dato Parteivorsitzende zur Wahl eines der beiden Fraktionschefs im Abgeordnetenhaus und erhielt gerade einmal 68 Prozent der Stimmen, ohne Gegenkandidaten wohlgemerkt. Dabei konnte Graf eine mehr als ordentliche Bilanz vorweisen. In seiner Ära als Co-Landeschef holte Spitzenkandidatin Bettina Jarasch mit 18,9 Prozent das beste Ergebnis der Berliner Grünen aller Zeiten. Jarasch wurde Vize-Regierungschefin, Graf nutzte es offenbar wenig.
Werner Graf nahm’s sportlich und sagte: „Bei uns knirscht es nicht.“ Er wertete das Ergebnis als „ein Zeichen von Demokratie“, wie es das bei seiner Partei immer wieder gebe.
Grünen-Kandidat: Schwarz-Rot ist eine „Koalition des Rückschritts“Graf hat diesen Denkzettel hinter sich gelassen. In den vergangenen zwei Jahren nach der Wiederholungswahl, die für die Grünen in den bitteren Rauswurf aus dem Senat mündete, hat er zusammen mit Jarasch die Fraktion zusammengehalten. Das fällt natürlich leichter, wenn man eine „Koalition des Rückschritts“, wie die Grünen Schwarz-Rot vom ersten Tag an nennen, von den Oppositionsbänken aus bekämpft. In dieser Zeit hat sich auch das Kräfteverhältnis der Top-Leute verschoben: weg von Jarasch, hin zu Graf.
Gleichzeitig fiel auf, dass die Grünen Anträge und Pressemitteilungen fast immer gemeinsam mit den ebenso in der Opposition gelandeten Linken verfassten. Vor allem für die Fundis sind die Linken weiterhin der natürliche Partner, bei den Realos gibt es viele, die darin ein „Totkuscheln“ erkennen. Das muss sich ändern, wenn die Grünen nächstes Jahr eine Chance gegen die Linke haben wollen, die seit Monaten auf einer unverhofften Welle surfen.
Die Grünen brauchen, nicht zuletzt nach dem Scheitern im Bund, dringend eigenes Profil. Bürgerinitiativen wie „Berlin autofrei“ sind da mit ihrer Radikalität nicht wirklich hilfreich. Sicher ist aber: Als Anhängsel der aktivistischen Mieter- und Palästina-Freunde-Linkspartei, bei der noch nicht ausgemacht ist, ob sie regierungswillig oder gar -fähig ist, werden die Grünen zermahlen.
Das weiß auch Graf. Doch was will er? Und was kann er durchsetzen? Graf ist im Grünen-Kanon ein Fundi, ein Parteilinker im traditionell linken Berliner Landesverband. Damit ist er das ehrlichere Personalangebot, als es die Reala Bettina Jarasch je sein konnte, die nie glaubhaft vermitteln konnte, kein Eitikettenschwindel zu sein. Graf verkörpert das Wesen der Partei, das lässt sogar Kritiker auf bessere Zeiten hoffen.
Jetzt soll eine neue Geschichte erzählt werden. Der gebürtige Oberpfälzer Graf, dem man seinen Dialekt auch nach Jahrzehnten in Berlin noch immer deutlich anhört, will „der Stadt ein progressives Angebot“ machen. Für ihn, das Arbeiterkind, den Homosexuellen aus der tiefen Provinz, sei Berlin Stadt der Freiheit, sagt er.
Das ist ein Sound, der vieles möglich machen soll. Als Fundi ist Graf wie die meisten Grünen zunächst ein Mann für Grün-Rot-Rot. Gleichzeitig ist sein gutes Verhältnis zu Kai Wegner legendär – auch wenn linke Parteifreunde schon immer eher Wegner als Quelle dieser Erzählung sehen. Dennoch: Werner Graf schließt auch ein schwarz-grünes Bündnis nicht kategorisch aus, schon um sich eine Option mehr offenzuhalten. Und jetzt müssen Linke und SPD erst mal mit Kandidaturen nachlegen.
Berliner-zeitung