Kanzlerwahl: So reagiert die Politik auf Merz’ historische Niederlage

Am Dienstagnachmittag hätte er eigentlich vereidigt worden sein sollen. Der designierte Bundeskanzler Friedrich Merz (CDU) scheiterte aber im ersten Wahlgang im Deutschen Bundestag. Die benötigte, absolute Mehrheit von 316 Abgeordneten verpasste Merz knapp – er erhielt nur 310 Stimmen.
Ein historischer Vorgang. Noch nie zuvor wurde ein Kanzlerkandidat im ersten Wahlgang nicht gewählt. Derzeit treffen sich die Bundestagsfraktionen, um ein weiteres Vorgehen zu beraten. Möglich wäre ein zweiter Wahlgang noch heute.
Aber wer ist für das Desaster verantwortlich? Ein SPD-Sprecher sagte der Berliner Zeitung: „Bei uns waren alle vollzählig.“ In CDU-Chatgruppen kursiert eine erste Einschätzung aus der Parteizentrale, dem Konrad-Adenauer-Haus. In der Fraktionssitzung der Union habe es „Standing Ovations“ für Merz gegeben, heißt es. Die Fraktion stehe geschlossen hinter ihrem Kanzlerkandidaten „und zu der Verantwortung für unser Land“. Es müsse jetzt schnell einen zweiten Wahlgang geben. „Die zukünftige Koalition hat eine Kanzlermehrheit. Jetzt sind alle gefordert, ihrer Verantwortung für Deutschland gerecht zu werden. Die Lösung der Probleme in unserem Land duldet keinen Aufschub und keine Taktiererei.“ Die CDU spannt den ganz großen Bogen: „Europa und die Welt schauen auf uns. Es braucht jetzt Stabilität in unserem Land.“
Grünen-Chef Banaszak: Für Denkzettel nicht die ZeitAfD-Chefin Alice Weidel sagt dem TV-Sender Phoenix: „Herr Merz sollte sofort abtreten. Es sollte der Weg geöffnet werden für Neuwahlen.“ Andere AfD-Politiker zeigen sich betont unbeeindruckt von der historischen Niederlage des CDU-Chefs: „Mich wundert das Scheitern von Friedrich Merz im ersten Wahlgang wenig“, sagt der Abgeordnete Götz Frömming der Berliner Zeitung. „Es gibt eine ganze Reihe von Abgeordneten in der SPD, die mit der Merz-CDU fremdeln. Wenn das schon so losgeht, frage ich mich, wie Merz eine stabile Regierung bilden will. Mit der AfD wäre das nicht passiert.“
Die Linke reagierte mit Häme auf Merz’ Wahlschlappe: „Wenn er noch nicht mal das Vertrauen von seinen eigenen Leuten in der Berliner Blase bekommt, wie soll er dann das Vertrauen der Menschen gewinnen, die mit den realen Problemen des Alltags kämpfen“, sagt der Parteivorsitzende Jan van Aken. „Ihm gelingt es nicht zu verbinden, sondern nur zu spalten. Mit ihm droht eine weitere Ära der Hoffnungslosigkeit.“
„Der bisher größte Wahlbetrüger in der Geschichte der Bundesrepublik wollte Kanzler werden, jetzt hat er noch nicht einmal das geschafft“, sagt die BSW-Vorsitzende Sahra Wagenknecht der Berliner Zeitung. „Friedrich Merz kann es einfach nicht und sollte daraus die Konsequenzen ziehen. Es ist aber auch eine krachende Niederlage für Lars Klingbeil.“ Wagenknecht meint: „Diese schwarz-rote Aufrüstungskoalition ist eine Totgeburt. Es wäre ein guter Tag für Deutschland, wenn es dabei bliebe und Friedrich Merz kein Bundeskanzler wird.“
Der Bundesvorsitzende der Grünen Felix Banaszak äußerte sich bestürzt über die unsicheren Mehrheiten des designierten Bundeskanzlers. „Friedrich Merz ist nicht der Kanzler, den ich gewollt oder gewählt hätte“, schreibt Banaszak auf X, „aber eine handlungsfähige Regierung braucht eine Mehrheit.“ Für Denkzettel sei es nicht die Zeit, so der Grünen-Politiker weiter, und bemängelt damit die fehlende Fraktionsdisziplin für Union und SPD.
Der ehemalige Bundestagsvizepräsident Wolfgang Kubicki (FDP) hofft auf eine zeitnahe Entscheidung des Bundestags. „Das war nicht einmal wirklich knapp und ein herber, wenn nicht gar vernichtender Schlag für die Kanzlerambitionen von Friedrich Merz“, schreibt der ehemalige FDP-Politiker auf X. Kubicki hoffe auf eine baldige Klärung, „denn eine rot-grüne Minderheitsregierung auf unbestimmte Zeit wäre die schlechteste aller Optionen“.
CDU-Generalsekretär aus Brandenburg: „Den Ernst der Lage nicht verstanden“„Die vier Berliner Abgeordneten werden alle mit Ja gestimmt haben“, heißt es aus der Berliner SPD. Bei einer Sitzung des Berliner Landesvorstands am Montagabend, dem drei der vier Abgeordneten angehören, hätten sich diese zustimmend geäußert, heißt es. Vor allem die Benennung der Ministerinnen und Minister auf SPD-Seite sei fast schon euphorisch kommentiert worden – selbst unter denjenigen, die zuvor hart mit dem Koalitionspartner CDU ins Gericht gegangen seien.
Der vierte Berliner Sozialdemokrat im Parlament ist Hakan Demir aus Neukölln, ein bis zum Schluss offensiv auftretender Merz-Gegner. Auf Anfrage der Berliner Zeitung, wie es nach dem ersten gescheiterten Wahlgang weitergehen solle, antwortete er: „Ich hoffe, dass wir schnell einen zweiten Wahlgang beginnen.“
Aus der Berliner Landesgruppe um Chefin Annika Klose heißt es: „Wir werden im zweiten Wahlgang auch alle aus der SPD zustimmen.“ Der Steglitz-Zehlendorfer Abgeordnete Ruppert Stüwe schreibt: „Ich spüre keine Stimmung in der Fraktion, dem klaren Votum der Mitglieder nicht Folge zu leisten.“
In der Berliner SPD verweist man stattdessen auf eine „legendäre Feindschaft“ zwischen Lars Klingbeil und dem ausgebooteten, aber intern sehr mächtigen Hubertus Heil. Solche Friktionen gebe es aber selbstverständlich auch in der CDU. So habe sich der Arbeitnehmerflügel bereits öffentlich entsetzt gezeigt, dass erstmals kein CDA-Vertreter (Christlich-Demokratische Arbeitnehmerschaft Deutschlands) dabei sei.
Ein ehemaliger Bundespolitiker der Berliner CDU zeigte sich auf Anfrage der Berliner Zeitung „nicht überrascht“ von Merz’ Scheitern. Vermutlich habe es von beiden Seiten Abweichler gegeben. Ebenso vermutlich sei, dass man Merz im ersten Wahlgang einen Denkzettel verpassen wollte, um ihn dann in einem direkt darauffolgenden Wahlgang doch zu wählen. Dass es durch die Verschiebung jetzt zu großen Unsicherheiten komme, werden die meisten wohl nicht geahnt haben.
Die Brandenburger CDU zeigt Unverständnis über die Vorgänge im Bundestag. „Wer auch immer hier in einer geheimen Abstimmung sein Mütchen kühlen wollte, hat den Ernst der Lage offenbar nicht verstanden“, sagt der Generalsekretär Gordon Hoffmann der Berliner Zeitung. „Der Koalitionsvertrag bietet eine sehr gute Grundlage, die drängenden Probleme unseres Landes anzugehen. Jetzt sollten sich mal alle am Riemen reißen.“
Berliner-zeitung