Schülervertreter kritisiert Wehrdienst: „Wir wurden ignoriert – jetzt drückt man uns ein Gewehr in die Hand“

Von der Corona-Krise bis zur Wehrdienst-Debatte: Schülervertreter Quentin Gärtner spricht über eine Generation, die sich von der Politik übergangen fühlt. Ein Interview.
Quentin Gärtner ist Generalsekretär der Bundesschülerkonferenz und somit Sprecher von Millionen Schülern in Deutschland. Eigentlich müsste er bei politischen Vorhaben, die junge Generationen betreffen, also eingebunden werden. Beim neuen Wehrdienstgesetz, das das Bundeskabinett Ende August beschlossen hat, war jedoch das Gegenteil der Fall. Es gab kein Gespräch, keine Einladung und keine Anhörung. Gärtner fühlt sich übergangen, so wie viele seiner Altersgenossen.
Im Interview berichtet er, wie sehr die Debatte über den Wehrdienst und mögliche Pflichtjahre junge Menschen belastet, die ohnehin schon unter Druck stehen: Steigende Zahlen von Depressionen und Angststörungen sowie eine sinkende Lebensqualität sind längst Realität. Hinzu kommen marode Schulen, fehlende Investitionen in Bildung und das Gefühl, von der Politik nur beachtet zu werden, wenn es darum geht, Lücken zu füllen.
Herr Gärtner, Sie haben kritisiert, dass junge Menschen bei den neuen Wehrdienstplänen übergangen worden seien. Niemand habe zum Beispiel das Gespräch mit Ihnen gesucht. Hat Sie Verteidigungsminister Boris Pistorius inzwischen kontaktiert?
Nein, weder er noch ein anderes Mitglied der Bundesregierung haben sich bisher bei mir gemeldet. An Herrn Pistorius möchte ich sagen: Sie können mich nach wie vor gerne anrufen.
Was hätten Sie sich konkret von der Bundesregierung gewünscht, bevor sie das Gesetz zum neuen Wehrdienst beschließt?
Wenn Gesetze erarbeitet werden, gibt es in der Regel Beteiligungsprozesse. Dabei schaut man sich an, wer die relevanten Akteure sind, und versucht, sie ins Boot zu holen. Außerdem holt man sich Expertenstimmen von allen möglichen Ebenen, um zu diskutieren, welche die beste Lösung ist. Und das muss man auch machen, wenn es um junge Menschen geht. Im Verlauf dieses Gesetzgebungsverfahrens ist das jedoch nicht passiert. Man möchte eine Entscheidung über Millionen von jungen Menschen treffen, hat im Vorfeld aber kein einziges Mal mit uns geredet. Das ist nicht in Ordnung.
Sie vertreten die Schüler in Deutschland. Wie sehr beschäftigt die Debatte um den neuen Wehrdienst derzeit die Schüler?
Die gesamte Debatte bedeutet eine enorme Belastung für uns junge Menschen – insbesondere, wenn man bedenkt, dass wir bereits jetzt extrem strapaziert sind. Die Zahl der Depressionen steigt, immer mehr Kinder und Jugendliche leiden unter Angststörungen, psychische Auffälligkeiten nehmen zu und seelische Belastungen haben sich insgesamt verschlechtert. Mittlerweile bezeichnet mehr als jeder vierte Schüler seine eigene Lebensqualität als gering. Im Klartext bedeutet das: Mehr als jeder vierte Schüler führt ein beschissenes Leben. Es kann doch nicht sein, dass die Politik erst dann in junge Menschen investiert und sich für sie interessiert, wenn es um den Wehrdienst geht.
Wie bewerten Sie den vom Bundeskabinett beschlossenen neuen Wehrdienst?
Als Bundesschülerkonferenz haben wir ein bildungspolitisches Mandat. Wir bewerten dieses Gesetz weder positiv noch negativ. Was wir jedoch klarstellen möchten, ist, dass es falsch ist, junge Menschen mit so wenig Respekt zu behandeln und sie nicht einzubeziehen. Plötzlich sollen sie für das Land als Krankenpfleger arbeiten, in Kitas auf Kinder aufpassen oder zur Bundeswehr gehen. Aber was hat dieser Staat eigentlich für uns geleistet? Wir sehen, dass alle Themen, die junge Menschen betreffen, von der Politik nicht mit der nötigen Ernsthaftigkeit behandelt werden – allen voran das Thema Bildung. Und das ist für uns nicht akzeptabel.
Befürchten Sie, dass mit dem neuen Wehrdienst die Wehrpflicht zurückkehrt?
Ja, man sollte da nicht naiv sein. Es ist klar, dass dieses Gesetz eine Wehrpflicht zur Folge hat, wenn die Freiwilligkeit nicht ausreicht. Das wurde auch von den Verantwortlichen mehrfach formuliert. Das heißt nicht, dass es auf jeden Fall so kommt oder dass es nicht mehr zu verhindern ist. Aber es ist sehr wahrscheinlich, dass die Wehrpflicht oder etwas Ähnliches eingeführt wird, wenn sich bis 2027 oder 2028 nicht genügend Leute melden.
Und wie stehen Sie zur Wehrpflicht?Als Bundesschülerkonferenz beziehen wir dazu keine Stellung, aber einige Landesschülervertretungen haben hierzu bereits klare Beschlüsse gefasst. Beispielsweise sagen der Landesschülerrat Brandenburg und der Landesschülerbeirat Baden-Württemberg, dass die Wehrpflicht so erheblich in die Berufs- und Studienorientierung von Schülern eingreift, dass sie abzulehnen ist.

Die Bundesregierung argumentiert, dass Sicherheit eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe sei und daher auch junge Menschen in die Pflicht genommen werden müssten.Das ist richtig, es ist eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe. Da liegt doch aber schon der Hase im Pfeffer. Wir sollen leisten, wir sollen etwas machen, aber was machen die Älteren eigentlich für uns? Sie drücken uns ein Gewehr in die Hand und sagen: „Viel Spaß, verteidigt jetzt mal unser Land“, während sie gleichzeitig zuschauen, wie es in unsere Schulgebäude reinregnet. Viele Schüler können davon berichten, dass es in der Schule schimmelt, dass es durch das Dach tropft und die Toiletten kaputt sind. Und dann sollen wir plötzlich das Land retten. Wenn Verteidigung und Sicherheit gesamtgesellschaftliche Aufgaben sind, dann soll auch die gesamte Gesellschaft liefern. Das bedeutet, dass wir unseren Anteil leisten und im Zweifel auch dieses Land verteidigen werden. Gleichzeitig müssen die Verantwortlichen in Regierung und Staat aber auch etwas für uns tun: Sie müssen für eine angemessene Bildung sorgen und die für unsere Zukunft relevanten Themen angehen.
Einige Politiker schlagen statt des Wehrdienstes ein verpflichtendes Dienstjahr für alle Schulabgänger vor. Was halten Sie von diesem Vorschlag?
Das ist tatsächlich genau dieselbe Sache. Es brennt irgendwo, wir müssen ein Thema lösen, und jetzt sind die Jungen dran. Aktuell haben wir zu wenig Personal in der Pflege. Anstatt die Arbeitsbedingungen zu verbessern und den Beruf attraktiver zu machen, will die Politik junge Menschen verpflichten. Diese Servicementalität, bei der wir die Hand aufhalten und erwarten, dass junge Leute liefern, während gleichzeitig nichts für sie getan wird, ist nicht in Ordnung. Die Politik bietet jungen Menschen nichts an. Sie sorgt nicht dafür, dass sie zu guten, resilienten und belastbaren Mitgliedern der Gesellschaft werden. Wenn es ihnen schlecht geht, hören die Politiker ihnen auch nicht zu. Trotzdem sollen die gleichen jungen Menschen dann liefern. Diese krankhafte Servicementalität weise ich zurück.
Corona, Kürzungen in den Bereichen Kultur und Soziales, jetzt die Zeitenwende – einige Beobachter sprechen von einer „geopferten Generation“. Teilen Sie diesen Eindruck?
Ich würde eher von einer ignorierten Generation sprechen. Wir haben in der Corona-Krise den Kopf hingehalten, Lockdowns und Schulschließungen mitgetragen, bei denen allen klar war, dass vor allem junge Menschen betroffen sein würden. Ältere Menschen hatten damit ebenfalls ihre Probleme, aber die Hauptbelastung lag bei jungen Menschen. Das hat sich übrigens auch wissenschaftlich bestätigt. Das Robert-Koch-Institut hat beispielsweise die gesundheitsbezogene Lebensqualität von jungen Menschen untersucht und festgestellt, dass sie während der Schulschließung viel stärker gesunken ist als bei älteren Menschen. Wir haben den Kopf hingehalten, um eine Risikogruppe zu schützen, die vorrangig außerhalb unserer Gruppe liegt. Und als der Lockdown vorbei war, gab es, wenn überhaupt, ein Danke. Danach hat die Politik uns einfach ignoriert und wieder über alles geredet, aber nicht über Themen, die uns betreffen.

Wie wirkt sich das auf Schüler aus?
Das ist für uns frustrierend, weil wir das Gefühl haben, nicht wahrgenommen zu werden. Wir leiden nach wie vor unter den Folgen des Lockdowns. Die Zahlen, die ich vorhin zitiert habe – wonach mehr als jeder vierte Schüler eine geringe Lebensqualität hat –, gab es vor dem Lockdown nicht. Wir sind nie wieder dorthin zurückgekommen, wo wir vor der Pandemie waren. Wir sind eine ignorierte Generation. Uns geht es nicht gut!
Sie sprechen über die Folgen der Corona-Krise. Wie sehr belasten die aktuellen Kriege und Krisen junge Menschen?
Die Belastung ist enorm. Einerseits haben wir diese ganzen Krisen, andererseits führen mobile Endgeräte dazu, dass wir sie viel direkter erleben und fast schon live miterleben können, was in anderen Teilen der Welt passiert. Dadurch sind wir einer viel höheren Belastung ausgesetzt als vielleicht früher. Das Argument der älteren Generation, man habe damals doch auch Probleme gehabt und es habe den Kalten Krieg gegeben, ist deshalb nicht haltbar. Denn heute gibt es ganz andere Mechanismen, die diese schrecklichen Nachrichten viel direkter zu uns bringen. Der Gaza-Konflikt ist ein Beispiel dafür, dass junge Menschen durch kriegerische Auseinandersetzungen verunsichert werden, dass sie Angst und Panik haben, wütend und verärgert über die Politik sind. Ich will den Gaza-Konflikt nicht bewerten – wir sind eine Schülervertretung, die Schulpolitik machen möchte. Aber weil ich für Schüler sprechen darf, kann ich sagen, dass der Gaza-Konflikt mit all den Videos gefolterter Geiseln und hungernder Kinder sehr viele junge Menschen geschockt hat.

Wie kann die Bundesregierung das Vertrauen und die Akzeptanz junger Menschen zurückgewinnen?
Die Antwort ist einfach: durch gute Politik für junge Menschen. Das heißt, sie muss unsere Themen aufgreifen, über Verbesserungen in der Bildungspolitik diskutieren und dann Taten folgen lassen – zum Beispiel, indem sie massiv in Schulen investiert, damit wir nicht mehr in maroden Klassenzimmern sitzen müssen. An die Bundesregierung möchte ich appellieren: Lasst uns nicht außen vor, wenn über uns entschieden wird! Holt uns mit ins Boot!
Berliner-zeitung