Sevim Dagdelen zu 80 Jahre Kriegsende: Es war ein Völkermord

Auch 80 Jahre nach der Befreiung vom deutschen Faschismus durch die Alliierten, allen voran die Rote Armee, steht die Anerkennung des NS-Völkermords an den Völkern der Sowjetunion durch Hitlers Raub- und Vernichtungskrieg im Osten weiterhin aus. Seit 80 Jahren wird der Völkermord in der Sowjetunion in Westdeutschland und der Bundesrepublik negiert und von den Bundesregierungen systematisch geleugnet. Dabei sprechen die Fakten für sich. 27 Millionen Bürger der Sowjetunion, davon zehn Millionen Armeeangehörige und Kriegsgefangene, starben in Folge des deutschen Einmarsches 1941 oder wurden von Verbänden der deutschen Wehrmacht und SS ermordet. Wer von einem Vernichtungskrieg im Osten spricht, der kann eigentlich nicht anders, als den Völkermord anzuerkennen.
Die Feinderklärung gegenüber Russland in der Gegenwart scheint die historische Feindschaft zur Sowjetunion zu verlängern. Die Feiern zur Befreiung vom Faschismus wirken daher immer mehr wie eine erzwungene Pflichtübung, der man sich nur unterwirft, weil auch die aktuellen NATO-Verbündeten USA, Großbritannien und Frankreich Teil der Anti-Hitler-Koalition waren. Ein neuer Geist geschichtspolitischer Abwehr durchzieht die deutsche Regierungspolitik von Union bis zu den Grünen. Es steht zu befürchten, dass der eigene Blick auf die Geschichte für die Kriegsvorbereitung heute in Dienst genommen wird.
Kein Kriegsverbrechen, sondern ein VölkermordWer bereit ist, die Mobilisierung für einen kommenden Krieg gegen Russland über die Vermittlung eines Geschichtsbildes zu betreiben, der wird jedenfalls nicht erstaunt sein über die fortgesetzte Abwehr, im Hinblick auf den Massenmord in der Sowjetunion durch das Dritte Reich und seine Verbündeten den Begriff des Völkermords zu verwenden. Nehmen wir die Blockade von Leningrad von 1941 bis 1944, bei der die deutsche Wehrmacht 1,1 Million Russen tötete. 90 Prozent davon ließ man zielgerichtet und systematisch verhungern. Die Auslöschung von Großstädten wie Moskau und Leningrad war NS-Kriegsziel. Die slawische Bevölkerung in der Sowjetunion sollte um 30 Millionen dezimiert werden. Wie aber sollte man den Plan zur Vernichtung der slawischen Bevölkerung in der Sowjetunion durch Nazi-Deutschland anders als einen Völkermord fassen?
Die politischen Pirouetten, die geschlagen werden, um dies nicht anzuerkennen, sind nicht allzu verwunderlich. Die Bundesregierung beharrte jedenfalls selbst noch in diesem Frühjahr 2025 in ihrer Antwort auf eine Anfrage meines Kollegen Andrej Hunko darauf, dass es sich in Leningrad um ein Kriegsverbrechen handle und eben nicht um einen Völkermord. Schon 2017 verteidigte sie auf eine parlamentarische Anfrage von mir zum Umgang mit den Opfern der Blockade von Leningrad, weiterhin keinerlei Entschädigungen an die Opfer leisten zu wollen.
Es geht um die Zukunft unseres LandesEs genügt, die Forschung zum NS-Hungerplan zur Kenntnis zu nehmen. Er kalkulierte mit Millionen Toten slawischer Bewohner der Sowjetunion durch den Raub von Getreide zur Versorgung der deutschen Bevölkerung. Allein das müsste das bis heute nicht gesühnte Unrecht ins Bewusstsein rücken. Der Hunger-Plan oder auch Backe-Plan, benannt nach dem zuständigen Staatssekretär im Reichsministerium für Ernährung und Landwirtschaft Herbert Backe, kalkulierte mit dem Tod von 30 Millionen Menschen. Infolge des fehlgeschlagenen Blitzkrieges spricht der Historiker Timothy Snyder von tatsächlich 4,2 Millionen Menschen in den besetzen Gebieten, die in Folge des NS-Hungerplans starben. Eine Kombination aus eliminatorischem Rassismus und NS-Kriegsökonomie.
Und dieses Unrecht wird jeden Tag verlängert durch die Obstruktionspolitik der Bundesregierung. Dabei war auch in der Bundesrepublik noch am Ende des Kalten Krieges ein Bewusstseinsumschwung zu verspüren. Die Wehrmachtsausstellung räumte auf mit den Legenden von der sauberen Wehrmacht. Die Systematik der Massenmorde an Zivilisten in der Sowjetunion trat immer stärker ins Bewusstsein der bundesrepublikanischen Gesellschaft. Den Vernichtungskrieg klar zu benennen, gehörte dann zum Selbstverständnis aller Parteien jenseits des rechten Flügels der Union. Was wir daher heute in der Geschichtspolitik erleben, muss als beklemmendes Zurückrollen hinter diese Aufklärung betrachtet werden. Die Kriegsmythen der NS-Täter von damals werden heute von SPD und Grünen mit verteidigt, denn sie passen in die gewünschte Feinderklärung gegenüber Russland.
„In jeder Epoche muss versucht werden, die Überlieferung von neuem dem Konformismus abzugewinnen, der im Begriff steht, sie zu überwältigen“, formulieret es einst Walter Benjamin treffend in seinem Text über den Begriff der Geschichte. Es geht um die Zukunft unseres Landes. Geschichte schafft Zukunft, aber nur wenn sie nicht weiter verfälscht wird. Es ist an der Zeit, den Völkermord im Osten nach 80 Jahren endlich anzuerkennen. Der Tag der Befreiung könnte dafür ein Anlass sein.
Sevim Dagdelen ist langjährige Bundestagsabgeordnete, Publizistin und außenpolitische Sprecherin des BSW.
Berliner-zeitung