Was für ein Ende haben Sie sich vorgestellt?

Ahmet Berk DUMAN
Ein Logbuch zur Post-Wahrheit (2025)
Die Menschheit versuchte zunächst, die Natur zu verstehen, dann, sie zu beherrschen … Jetzt, da sie sie schnell verschlingt, blickt sie nicht einmal zurück. Die innere Stimme, mit der sich M. Aurelius in seinem Buch „Gedanken“ selbst mit „Du“ anspricht, hallte schon gegen Ende des Dokumentarfilms durch meine Gedanken. Dieser Titel ist wie eine zeitgenössische und fragmentarische Version dieses inneren Dialogs, der sich von der Vergangenheit bis in die Gegenwart erstreckt. Vom 20. Jahrhundert bis zum ersten Viertel des 21. Jahrhunderts wurde die Zivilisation als Fortschritt bezeichnet, doch ihre Richtung ist Zerstörung. Die Gier nach Profit entwertet alle Werte, während Gier unsere gemeinsame Sprache ist. In der heutigen Welt ist die Natur ein Hort zahlenmäßig reduzierter Ressourcen. Und die Menschheit? Sie schmälert sich am meisten durch alles, was sie verbraucht.
Die Apokalypse kommt lautlos. Weder mit himmelstürmenden Raketen noch mit blutigen Revolutionen. Sie bewegt sich durch den Lärm der Informationen, den Fluss der Bilder und die helle Stille der Bildschirme. Alkan Avcıoğlus „Jenseits der Realität“ ist ein Dokumentarfilm genau dieser stillen Apokalypse. Er zeichnet nicht nur die Gegenwart auf. Wie die Hände, die in Rom die Statue eines gefallenen Kaisers abkratzen, werden auch hier Spuren der Wahrheit systematisch ausgelöscht. Damnatio memoriæ, die unzeremonielle Zerstörung, die durchgeführt wird, um jemanden vollständig aus dem Gedächtnis zu löschen. Heute ist diese Zerstörung nicht physisch: Sie ist algorithmisch, digital und zudem freiwillig!
Für J. Berger war Werbung nicht das Erbe der Renaissance, sondern ihr Todeskampf. Visuelle Bilder bildeten die Realität nicht mehr ab, sondern imitierten sie. Der Dokumentarfilm ist das digitale Echo dieses Todeskampfes. Wir erinnern uns an die „Virus“-Metapher, die Agent Smith ins Ohr geflüstert wurde: Jeder ist falsch, jeder ist verrückt! Die Erzählung der künstlichen Intelligenz im Dokumentarfilm ist selbst eine Manifestation dieses Virus. Wie J. Baudrillard 1981 schrieb: „Wir leben in einer Simulation der Realität.“ Während die Simulation allgegenwärtig ist, wird unser Alltag von Algorithmen geprägt.
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Worte waren einst sichere Häfen; was gesagt wurde, hatte Bedeutung, Gewicht und Kontext. Heute zählt nicht mehr, was wir sagen, sondern wie viel Engagement wir erfahren. Der Wunsch nach einer Geschichte hat die Wahrheit ersetzt. Facebooks Experiment aus dem Jahr 2009 bewies, dass positive und negative Inhalte die Stimmung der Nutzer manipulieren. Können also heute sogar unsere Emotionen vorgetäuscht werden? Mit jeder Szene verschiebt der Dokumentarfilm den Bildschirm rechts neben diese Frage in unseren Köpfen: Gesehen werden, ein neuer Instinkt. Beobachtet werden, die Konstruktion einer neuen Identität. Die eigene Existenz erfährt man heute nur noch über die Bildschirme anderer. Und genau deshalb präsentiert der Dokumentarfilm seinem Publikum keine Geschichte, sondern beleuchtet die narrative Krise. Das Beispiel des Restaurants, das auf TripAdvisor ein „Clickbait“ ist, aber „nicht in London“ steht, zeigt, wie leicht die Realität konstruiert werden kann. Aktienkurse werden von Bots aufgebläht, Emotionen von Algorithmen manipuliert, und all das wird von einem „guilty pleasure“ durchdrungen … Genau wie die überraschende Anspielung am Ende des Films „Strasbourg 1518“ von Regisseur J. Glazer. Eine Tanzepidemie! Die Leute wussten nicht, warum sie tanzten, aber sie tanzten. In der Dokumentation schafft die Parallelität zwischen dem Klicken der Tastatur und den tanzenden Absätzen eine visuelle Sprache, die nicht nur eine auditive, sondern auch eine existenzielle Resonanz hat.
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Der Dokumentarfilm, dessen Drehbuch in Zusammenarbeit mit Gizem Avcıoğlu, einer unter dem Pseudonym „Vikki Bardot“ bekannten Künstlerin für künstliche Intelligenz, entstand, ist das Ergebnis zweijähriger Arbeit. Bildkomposition, Sounddesign, Erzählerstimme, Musik und Schnitt wurden von künstlicher Intelligenz generiert. Dies ist nicht nur eine Produktionsform, sondern kann auch als digitales Äquivalent zu Vertovs Wunsch nach einem „Kino ohne menschliche Eingriffe“ interpretiert werden. In Großstädten hat das Auge das Ohr überholt. Wie Georg Debord sagte: „Alles direkt Erlebte wird zur Repräsentation.“ Politiker agieren wie einfache Algorithmen, während wir unsichtbaren Anweisungen folgen.
Ja, nein, vielleicht, du, dein Verstand …
Das Konzept der Generation, eine Verbindung von Erinnerung und Geschichte, wird nicht nur durch Ideen, sondern auch durch ein schriftliches Zeugnis von Zeit und Körper geprägt. „Jenseits der Realität“ lässt uns fragen, ob wir unseren eigenen Geist noch schützen können. Der Satz, der in der Schlussszene in uns widerhallt, stammt direkt aus dem Film „La Haine“ (1995): „So weit, so gut.“
Was für ein Ende haben Sie sich vorgestellt?
BirGün