Art Basel – der grosse Jahrmarkt der verlorenen Träume


Jens Ziehe / © Pro Litteris
Auf Basels Rheinbrücke flattern die Fahnen. Der Wind weht stark über dem Fluss. Und das passt jetzt gut. Denn so kann man erkennen, was die Flaggen zeigen. Es sind Körperteile und Gliedmassen, bedruckt mit Schriftelementen: eine Fusssohle mit dem Aufdruck «Footnote», ein Rücken mit dem Schriftzug «Throwback», ein Hinterteil, auf dem «Arsenal» zu lesen ist, und zwei weibliche Brüste mit der Beschriftung «Orchestra». Grund der Beflaggung: Es ist Art Basel. Und die Installation der Britin Fiona Banner ist Teil eines Parcours von Kunstwerken im städtischen Raum, der direkt zum Basler Messeplatz führt.
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Dort finden sich die Scharen, die zur Eröffnung der weltweit bedeutendsten Kunstmesse strömen, wieder als Teil eines riesigen Gemäldes. Die deutsche Starkünstlerin Katharina Grosse hat hier alles in Farbe getaucht: den Boden des weiten Platzes, den Brunnen, das Brunnenbecken, die Laternenmasten und selbst die Fassade des Messegebäudes. Der Kontrast der gestischen Farbschlieren in Rot, Rosa und Weiss mit dem tiefgrün leuchtenden Glas des Messeturms ist atemberaubend. Die Art Basel fährt einmal mehr grosses Geschütz auf.
Allem voran in der Halle von Unlimited, der vom Direktor der Kunsthalle St. Gallen, Giovanni Carmine, kuratierten Megaschau mit raumgreifenden Installationen, die in einer normalen Ausstellungskoje niemals Platz finden würden. Hier empfängt einen gleich zum Auftakt eine 34 Meter lange und über 7 Meter hohe Festbeleuchtung, wie sie etwa auf Jahrmärkten und Festivals Verwendung findet.
Georgios Kefalas / Keystone / © Pro Litteris
Die festliche Lichtershow stammt von der italienischen Künstlerin Marinella Senatore (geb. 1977) und besteht aus Abertausenden von Glühbirnchen, die in Weiss, Gelb und Rot leuchten. In der strahlenden Krone dieser Luminaria ist auch ein Schriftzug zu lesen: «I contain multitudes» oder kurz: Ich bin viele, hat der amerikanische Dichter Walt Whitman im vorletzten Jahrhundert einmal geschrieben.
Ein zweites Schriftband liest sich: «We rise by lifting others». Das Zitat stammt vom amerikanischen Politiker Robert Green Ingersoll. Er war ein bekannter Redner des späten 19. Jahrhunderts, profilierter Vertreter der Freidenker und Vater der Frauenrechtlerin Eva Ingersoll Brown.
Marinella Senatore will mit ihrer festlichen Lichtinstallation Brücken bauen über soziale Gräben hinweg, wie sie selber sagt, und durch Kunst Gemeinschaft bilden. Zumindest Letzteres gelingt ihr hier im Rahmen der Art Basel auch bestens. Und tatsächlich ist man hier als Besucher eine unter vielen Identitäten: Die Gäste stammen aus rund 90 Nationen, wie die Messeorganisation anhand der VIP-Einladungen am Eröffnungstag ziemlich genau einschätzen kann. Und in der Tat hat es etwas Erhebendes wie auf einem Kirmes-Karussell, sich inmitten dieser Menschenmenge und einem geradezu babylonischen Sprachengewirr zu bewegen. Die Art Basel ist auch ein alle Jahre wieder stattfindender Jahrmarkt der modernen Kunst.
Marinella Senatores leuchtendes Gebilde etwa bietet die Turiner Galerie Mazzoleni für 550 000 Euro an. Alle der hier ausgestellten Werke sind zu kaufen, für beachtliche Geldsummen. Solange solche Preise bezahlt werden, funktioniert der Kunstmarkt.
Ob allerdings die geopolitisch unsichere Weltlage die Geschäfte diese Woche an der Art Basel trüben wird? Die Kunst ist in diesen Tagen gewiss auch willkommene Ablenkung von Krieg und Krise. Und die Messe in Basel bekanntlich auch eine Traumfabrik. Hier kann man selbst verloren geglaubte Träume wiederfinden: zum Beispiel in einer Installation, die Jaume Plensa «Forgotten Dreams» nennt.
Georgios Kefalas / Keystone © Pro Litteris
Sein Werk besteht aus einer schmalen Passage mit 21 aus Aluminium gegossenen Türen zu beiden Seiten. Darauf führt der 1955 in Barcelona geborene Künstler sämtliche Artikel der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte der Vereinten Nationen von 1948 auf.
Da heisst es in Artikel 1: «Alle Menschen sind frei und gleich an Würde und Rechten geboren. Sie sind mit Vernunft und Wissen begabt und sollen einander im Geist der Brüderlichkeit begegnen.» Artikel 2: «Jeder hat Anspruch auf die in dieser Erklärung verkündeten Rechte und Freiheiten ohne irgendeinen Unterschied, etwa nach Rasse, Hautfarbe, Geschlecht . . . »
Und so geht es weiter, 30 Artikel lang: «Jeder hat das Recht auf Gedanken-, Gewissens- und Religionsfreiheit»; «Jeder hat das Recht auf Meinungsfreiheit und freie Meinungsäusserung». Sind das bloss Träume, die vergessengegangen sind, wie der spanische Künstler mit seinem Werktitel suggeriert? Seine Türen zu Utopia nämlich sind fest verschlossen.
Eine bessere WeltWie unerreichbar das Paradies erscheint, daran erinnert auf eindrückliche Weise eine andere Installation. Es ist die grösste, die wohl je an einer Ausgabe der Art Basel gezeigt wurde. «The Voyage – A March to Utopia» (2025) führt quer durch die ganze Unlimited-Halle – und führt uns anhand von Tausenden von unterschiedlichsten Objekten symbolhaft die endlose Suche der Menschheit nach einer besseren Zukunft vor Augen.
Georgios Kefalas / Keystone / ©Pro Litteris
Die gewaltige Installation stammt vom niederländischen Künstlerkollektiv Atelier van Lieshout aus Rotterdam und besteht aus so ziemlich allem, was sich die Menschen jemals ausgedacht haben an Hilfsmitteln, um eine bessere Existenz zu führen: Wagen, Werkzeuge, Toiletten, Betten, Waffen, Labore, Brutkästen und Operationstische. Überdies zahllose Figuren: ein Soldat mit Baby im Arm, ein bettelnder Künstler, ein Astronaut, zwei Ritter aus Blech . . .
Joep van Lieshout, der sein Künstlerkollektiv 1995 gegründet hat, beschreibt das so: «Diese Arbeit handelt von einer Reise nach Utopia, zu einem unbekannten Ort – einem besseren Ort – einem Garten Eden – einem Ort, wo wir Glück finden wollen, einem Ort, wo wir eine neue Welt erschaffen wollen.» Angeführt wird die Karawane vom «Führer» («Leader»), wie der kleine rote Roller an der Spitze des Zugs betitelt ist: Auf dessen Trittbrett montiert streckt sich hoffnungsvoll eine modellierte Hand aus.
Art Basel, Basel, bis 22. Juni.
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