Der Staat und seine Pflicht: Wie sicher ist Deutschland noch?

Der große und bis heute bedeutende englische Staatsphilosoph Thomas Hobbes wollte angesichts des furchtbaren Bürgerkrieges in seinem Land den Menschen vor dem Menschen schützen. Gäbe es keine strengen Gesetze, so urteilte Hobbes 1651 in seinem Hauptwerk „Leviathan“, würde es unweigerlich einen „Krieg aller gegen alle“ geben, eine fatale Ausuferung von Gewalt. Der Mensch habe sich dem souveränen Herrscher per Gesetz zu unterwerfen, der wiederum für Frieden zu sorgen habe.
Hoch bedeutsam ist hierbei die Feststellung – und unzählige Wissenschaftler haben bis heute immer wieder darauf Bezug genommen –, dass nach Hobbes nur dann der Bürger gegen den Staat aufstehen und zur Revolte schreiten darf, wenn dieser eben nicht mehr für die Unversehrtheit des Einzelnen sorgen kann.
Schauen wir also auf die derzeitige Sicherheitslage in unserem Land, sei es hinsichtlich der inneren Abwehrbereitschaft oder der äußeren Verteidigungsfähigkeit. Ist der „Urzustand“ eines „Krieges aller gegen alle“ eingetreten? Garantiert unser Staat noch Sicherheit? Und darf bereits jetzt der empörte Bürger zum Aufstand schreiten? Die Antwort ist ein klares Nein, so weit ist es noch nicht. Aber die politische Führung und auch die Bürger dürfen sich keinesfalls in Ruhe zurücklehnen: Wir müssen die Augen öffnen und ein paar wichtige Fakten zur Kenntnis nehmen.
„Eines der sichersten Länder der Welt?“ – Wenn das Sicherheitsgefühl schwindetDie oberste Aufgabe und Pflicht unseres Staates ist und bleibt die Daseinsvorsorge. Diese umfasst Bereiche wie Wasser- und Energieversorgung, Bildung, Gesundheit, Verkehr und Telekommunikation sowie den Sozialbereich, um das menschliche Dasein zu ermöglichen und das Gemeinwohl zu fördern. Aber ganz vorne steht die Sicherheit, denn ohne sie kommt es wie von Hobbes beschrieben zum gewalttätigen Urzustand. Zum einen betont die Regierung, dass die Sicherheitslage stabil sei. „Deutschland gehört zu den sichersten Ländern der Welt“, schrieb vor kurzem das Bundesinnenministerium auf seiner Website. Manuel Ostermann, Bundespolizist und Vizechef der Deutschen Polizeigewerkschaft, sieht das allerdings vollkommen anders: „Ich würde sagen, Deutschland ist nicht mehr sicher.“

Osterman ist einer von vielen Polizeibeamten, die die Situation draußen kennen, er hat beobachtet und seine Erkenntnisse zusammengefasst: „Die Politik hat landesübergreifend bis in die Bundesregierung hinein über Jahrzehnte hinweg an der Infrastruktur des öffentlichen Dienstes gespart, mit fatalen Folgen. Insbesondere die Migrationskrise definiert sich zunehmend als Kriminalitätskrise.“ Das ist nur ein Aspekt, der viele Deutsche das Gefühl haben lässt, ihr Land sei nicht mehr sicher. Laut aktuellen Umfragen fühlen sich nur rund 56 Prozent der Bevölkerung in ihrem Bundesland sicher – Tendenz sinkend. Die wachsende gefühlte Unsicherheit in der Bevölkerung ist für staatliche Institutionen besorgniserregend, da sie dadurch weiter an Vertrauen und Zustimmung verlieren.
So ist das Sicherheitsempfinden der Bevölkerung in den letzten Jahren durch ein hohes Vorkommen von Gewaltkriminalität im öffentlichen Raum, unter anderem tägliche Messerkriminalität, Gruppenvergewaltigungen und Drogenkriminalität sowie zuletzt nach den islamistischen Anschlägen in Solingen im August und in Mannheim im Mai 2024 erheblich beeinträchtigt. Es gibt zudem ganze Stadtviertel, etwa im Ruhrgebiet, in denen sich wegen der Parallelgesellschaft von Clans nur noch wenige Menschen auf die Straße trauen und der Staat machtlos erscheint. Es ist erstaunlich und für viele Bürger frustrierend, dass der Staat aus falsch verstandener Liberalität hier nicht längst konsequent eingreift und fällige Straftäter abschiebt. Merken die politischen Akteure denn gar nicht, dass sie den Ast absägen, auf dem sie gerade sitzen?
Strukturversagen statt Einzelfälle: Warum die Sicherheitskrise tiefer reichtAber es wäre viel zu einfach, das Thema Sicherheit eindimensional auf das Thema Ausländer zu schieben. Messerattacken, Gruppenvergewaltigungen und insbesondere psychische Gewalt durch die sozialen Medien werden von auch von Deutschen vielfach betrieben. Die Achtung und der Respekt gegenüber dem Nächsten lassen in unserer Gesellschaft erkennbar nach.
Es sind noch andere wichtige Faktoren. So braucht es nach der Meinung vieler Experten nicht unbedingt mehr Gesetze und Befugnisse, es brauche mehr Konsequenz und weniger Behörden-Wirrwarr. Das Thema Bürokratie ist kennzeichnend für den Zustand unseres Staates: Längst ist dieses gewaltige Hemmnis für Wirtschaft, Polizei, Politik und andere wichtige Bereiche erkannt, nur die Kraft zum konsequenten Abbau fehlt. Genau diesen Zustand der mangelnden Willenskraft, für fast alle Beobachter ersichtlich, hat der Autor dieser Zeilen bereits vor zwei Jahren als „Dekadenz“, also als Verfall unserer Gesellschaft beschrieben. Und diese ist seitdem weiter fortgeschritten.
Zudem werde, so wird beklagt, zu wenig in das Personal und die Ausrüstung der Polizei investiert. Die Ursachen sind vielfältig und reichen von gestörten Lieferketten aufgrund des Ukrainekrieges über Fachkräftemangel und Materialengpässe bis hin zu bürokratischen Ausschreibungsverfahren. Polizeigewerkschaften fordern daher endlich eine bessere und einheitliche Finanzierung der Ausrüstung, um die Sicherheit für Beamte und Bürger zu gewährleisten.

Was aber passiert beim zweiten Thema der Sicherheit, der Abwehr von äußerer Gewalt? Wenn ich jetzt behaupte, die Bundeswehr sei bedingt abwehrbereit, wäre ich vor rund 60 Jahren ins Gefängnis gekommen. Ja, Sie lesen richtig. Der damalige Spiegel-Chef Rudolf Augstein hatte im Oktober 1962 eine Titelstory mit diesen Worten veröffentlichen lassen. Der Verteidigungsminister Franz Josef Strauss schickte den Verleger in den Knast, den er schnell wieder verließ, und Strauss reichte elf Tage später seinen Rücktritt ein. Schauen wir auf die Gegenwart: Auch heute ist die Bundeswehr bedingt abwehrbereit, genauer noch: bedingt abwehrfähig.
Während der Merkel-Ära überwog eine pazifistische Grundeinstellung der linksliberalen Mitte, aber sie galt genauso für Teile der Union. Verheerend war dabei die Abschaffung der Wehrpflicht durch den Verteidigungsminister Karl-Theodor zu Guttenberg 2011. Weil sie uns endgültig in die Abhängigkeit von den USA trieb, weil sie die Heeresstärke verkleinerte und Ausrüstung und Logistik verkümmern ließ. Und weil sie verhinderte, dass Millionen junger Menschen beim Bund durch politischen Unterricht demokratisch geschult wurden. Heute beklagen wir eine mangelnde demokratische Grundeinstellung vieler Jugendlicher. Warum führt man nicht ein „Jahr für Deutschland“ als Pflichtjahr ein, in dem sich der junge Mensch nach der Schule entweder für den Wehr- oder den Zivildienst entscheiden darf? Was könnte das für einen positiven Ruck geben.

Aufgrund der fatalen Fehlentwicklung der letzten 20 Jahre fehlt es derzeit bei der Bundeswehr an vielem. Die Kanzler Scholz und Merz haben nun erkannt, aufgeschreckt durch die Ukraine-Krise, dass man das Thema äußere Sicherheit nicht mehr unangetastet lassen kann. Man hat also erst mal Zahlen sprechen lassen und den Steuerzahler kräftig zur Kasse gebeten; Deutschland will bekanntlich alles perfekt machen. Jedoch war schon im Sommer 2024 absehbar, dass das 2022 kurz nach Beginn des Krieges in der Ukraine wirksam gewordene Sondervermögen von 100 Milliarden Euro spätestens 2027 verbraucht sein würde. Denn diese Summe ist allein für die seit Jahren vernachlässigte Ausrüstung der Bundeswehr nicht ausreichend.
Merz: Bundeswehr soll alle Mittel bekommenIn seiner Regierungserklärung im Mai erklärte Friedrich Merz sodann, dass die Bundeswehr alle finanziellen Mittel bekommen solle. Er fügte angesichts des Ukrainekrieges hinzu: „Stärke schreckt Aggression ab. Schwäche hingegen lädt zur Aggression ein.“ Ja, das klingt erst mal überzeugend. Deutschland hat jedoch viel zu wenig militärische Ausrüstung, um dem Anspruch von Merz auf Jahre gerecht zu werden. Rüstungsfirmen wie Rheinmetall oder Hensoldt reiben sich die Hände, ihre Aktienkurse sind um ein Vielfaches gestiegen.
Nun also will Deutschland in Windeseile aufrüsten, und nur wenige fragen sich, wie genau das alles denn laufen soll. Das Nato-Ziel liegt nämlich derzeit bei 3,5 Prozent des Bruttoinlandsprodukts, was große Haushaltsmittel erfordert und zu erheblichen neuen Schulden führen wird. Fünf Prozent als neues Nato-Ziel, das US-Präsident Trump von seinen Partnern fordert, würde Deutschland pro Jahr rund 225 Milliarden Euro kosten, wäre also im Grunde gar nicht machbar. Warum also führt die Politik hier nicht eine von Vernunft geleitete Debatte: Ja, wir müssen die Bundeswehr wieder fit machen, aber alles bitte mit dem notwendigen Augenmaß.

Zudem fehlt es beim Personal für die Bundeswehr an allen Ecken und Enden. Die Zahl der freiwilligen Bewerber reicht bei weitem nicht aus, um den Personalsorgen der Bundeswehr zu begegnen; weder bei den Offizieren noch bei den niedrigeren Dienstgraden. Seit Jahren zählt die Bundeswehr rund 180.000 Soldaten, für die neuen Nato-Vorgaben wären jedoch etwa 250.000 erforderlich. Wie aber soll das bei der derzeitigen Freiwilligkeit gewährleistet werden? Die Bundeswehr wirbt daher inzwischen großflächig und unübersehbar um neues Personal – auf Litfaßsäulen, in sozialen Netzwerken und anderen Kanälen. Slogans wie „Mehr als ein Job. Wir fordern und fördern“ oder „Weil Du es kannst“ zeigen erste leichte positive Wirkung.
Und man darf Folgendes nicht übersehen: Kasernen und Liegenschaften wurden verkauft. Die Wehrersatzämter, in denen früher junge Männer gemustert wurden, sind inzwischen abgeschafft worden. Die Strukturen, die es für eine Wehrpflicht braucht, existieren nicht mehr. Und es fehlen massenhaft Ausbilder. Daher muss der neutrale Beobachter zum Schluss kommen: Die Bundeswehr in ihrem jetzigen Zustand ist wirklich nur bedingt verteidigungsfähig. Es wird Jahre dauern, bis sie ihre alte Stärke zurückerlangt.
Fassen wir also das Sicherheitspotenzial Deutschlands zusammen – sei es im Hinblick auf die innere Ordnung oder die äußere Verteidigungsfähigkeit: Es bleibt noch viel zu tun. Was es jetzt braucht, sind Mut, Konsequenz, Augenmaß – und endlich eine offene, ehrliche Kommunikation mit den Menschen, die mit ihren Steuern das Fundament unserer Sicherheit finanzieren. Noch äußern sie ihren Unmut lediglich an der Wahlurne und nicht – wie etwa im Nachbarland Frankreich – auf der Straße. Doch das „noch“ sollte ernst genommen werden.
Berliner-zeitung