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Kaschmir | Indien und Pakistan: Schlagabtausch der verfeindeten Nachbarn

Kaschmir | Indien und Pakistan: Schlagabtausch der verfeindeten Nachbarn
»Wir sind dankbar, wir sind stolz, wir grüßen unsere Helden«: In Kolkata werden die indischen Soldaten gefeiert.

Nun ist die Katze aus dem Sack: Indiens Generalstabschef, Anil Chauhan, hat am Rande des Shangri-La-Dialogs in Singapur, der wichtigsten Sicherheitskonferenz in Asien, ein denkwürdiges Interview gegeben. »Wichtig ist nicht, dass ein Jet abgeschossen wurde, sondern warum er abgeschossen wurde«, sagte der General dem Sender Bloomberg TV und gab damit zu, dass Indien in dem kurzen, aber heftigen Scharmützel mit Pakistan Mitte Mai sehr wohl militärische Verluste erlitten hat. Die Regierung in Neu-Delhi wollte das eigentlich nicht eingestehen. Dabei gab es genügend Hinweise, dass Pakistan mindestens einen der sündhaft teuren Dassault-Rafale-Jets, die Indien zum Stückpreis von mehr als 200 Millionen Euro aus Frankreich importierte, zerstört hat.

»Das Gute ist: Wir haben die taktischen Fehler, die wir gemacht haben, verstanden und konnten sie zwei Tage später ausgleichen«, so der General. Nach einem Terroranschlag in der zwischen Indien und Pakistan umstrittenen Region Kaschmir hatte Indien im Mai die Militäroperation »Sindoor« ausgerufen, während der die indische Armee zahlreiche Einrichtungen der in Pakistan ansässigen Terrororganisationen Jaish-e-Mohamad (JeM) und Lashkar-e-Tayba (LeT) angriff. Pakistan schlug zurück. In dem darauffolgenden, zweitägigen Luftkampf unter Einsatz Hunderter Drohnen starben etwa 200 Menschen, darunter nach indischen Angaben auch rund 100 Terroristen in Pakistan.

Der Schlagabtausch zwischen den verfeindeten Nachbarn, die beide über Atomwaffen verfügen, vermittelte nicht nur einen Echtzeit-Einblick in die moderne, digital gesteuerte Kriegsführung – er hat zugleich das strategische Gleichgewicht auf dem Subkontinent verschoben, und zwar zugunsten Chinas. Sichtbar wurde, in welchem Ausmaß China inzwischen für Strategie und Ausstattung des pakistanischen Militärs verantwortlich zeichnet. Das ist nicht nur für Indien eine schlechte Nachricht, es macht auch einen ausgewachsenen konventionellen Krieg in der Region wahrscheinlicher. »Stellvertreterkriege und Terror sind die neue Normalität, ebenso wie ein Gegenangriff«, sagt die pakistanische Militärexpertin Ayesha Siddiqa. Hinzu kommt hier noch ein Umstand, der oft übersehen wird, nämlich dass die Region schon seit längerer Zeit massiv konventionell aufrüstet.

Massive Aufrüstung

Indiens Militärausgaben sind 2025 um stattliche 9,53 Prozent gewachsen. China hat sein Militärbudget für dieses Jahr nach Angaben des Finanzministeriums um 7,2 Prozent aufgestockt. Pakistan bezieht laut Shashi Tharoor, dem Vorsitzenden des Ausschusses für Auswärtige Angelegenheiten im indischen Parlament, 82 Prozent seiner Waffen aus China. Nach Angaben des unabhängigen Stockholm International Peace Research Institute (Sipri), kamen bereits 2020 mehr als drei Viertel (77 Prozent) der pakistanischen Rüstungsgüter aus China.

Dabei sind die Interessenlagen auf indischer und chinesischer Seite unterschiedlich: Indien sieht sich seit Langem unter Druck, mit immer härteren Mitteln gegen Terrororganisationen vorzugehen, die, vom pakistanischen Militär geschützt, Angriffe auf indischem Territorium ausführen. »Aus pakistanischer Sicht gab es einen Vorstoß aus Indien. Pakistan hat ihn abgewehrt. Die Regierung ist zufrieden«, sagt Ayesha Siddiqa. Pakistan erhebt Anspruch auf das mehrheitlich von Muslim*innen bewohnte Kaschmir – ein Zankapfel zwischen beiden Ländern seit der Unabhängigkeit 1947. Da Pakistan das weitaus größere und inzwischen wirtschaftlich massiv gewachsene Indien militärisch nicht besiegen kann, setzt es auf eine »Politik der tausend Nadelstiche«, um Kaschmir zu erobern.

Im von Wirtschaftskrisen geschüttelten Pakistan, in dem zivile Regierungen regelmäßig von der Armee aus dem Amt gedrängt werden, ist Kaschmir für das Militär ein probates Mittel, um Nationalismus zu schüren und seine Relevanz unter Beweis zu stellen. Aber auch der hindu-nationalistischen Regierung unter Ministerpräsident Narendra Modi kommt die Welle von Nationalismus, die im Zuge der »Operation Sindoor« von den Medien geschürt wurde, keineswegs ungelegen. Seine Regierung hatte 2019 dem damaligen Bundesstaat Jammu und Kaschmir den Sonderstatus entzogen und die mehrheitlich buddhistische Region Ladakh zu einem eigenen Staat gemacht, was in Kaschmir nicht auf Begeisterung stieß. Das Versprechen, Jammu und Kaschmir, das nach wie vor unter Verwaltung der Regierung in Neu-Delhi steht, wieder die staatlichen Rechte zuzugestehen, liegt vorerst auf Eis.

Peking ist Modis Kaschmir-Politik ein Dorn im Auge, weil sie Indiens territorialen Anspruch auf die Region Aksai Chin, einen von China verwalteten Teil Kaschmirs, und auf das in Kaschmir gelegene Shaksgam-Tal unterstreicht, das von Pakistan an China abgetreten wurde. Allerdings verfolgt China eine längerfristige geopolitische Strategie, die weit über diese Grenzkonflikte hinausreicht. Es will seine dominante Macht in Asien festigen und den Einfluss Indiens sowie der USA in der Region zurückdrängen.

China rivalisiert mit Indien

»China will, dass Indien in regionale Konflikte verwickelt bleibt, die seine finanziellen und militärischen Ressourcen erschöpfen«, so der Journalist Sandipan Sharma vom Magazin »India Today«. Er zitiert die Sicherheitsexpertin Tara Kartha vom Institute of Peace and Conflict Studies, einem Thinktank in Neu-Delhi, mit den Worten: »Indien muss seinen wirklichen Feind kennen. Dieser Feind will, dass Indien Krieg führt.« Auch Anushka Saxena, wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Takshashila Institution, einer Denkfabrik in Bengaluru, ist der Auffassung: »Aus chinesischer Sicht ist ein kleiner, lokaler Konflikt kein ungünstiges Ergebnis.« Die Herausforderung bestehe in der Gefahr einer Eskalation zu einem umfassenden Krieg, der sich auf die wirtschaftlichen und sicherheitspolitischen Interessen Chinas auswirken würde.

Liu Zongyi, Direktor des Zentrums für Südasien-Studien am Shanghai Institute for International Studies (SIIS), plädiert daher für Deeskalation. Er argumentiert, dass Indien im Falle einer Fortsetzung des Konflikts mit Pakistan separatistische und extremistische Gruppen in Pakistan und Afghanistan unterstützen könne, die Pakistans innere Sicherheit bedrohen und den China-Pakistan Economic Corridor (CPEC) stören würde. Der CPEC ist ein wichtiges Element in Chinas »Neuer Seidenstraße« (Belt and Road Initiative), einem Instrument, das durch Investitionen in kritische Infrastruktur Chinas Einfluss weltweit sicherstellen soll. Zwar gibt es keine Beweise dafür, dass Indien extremistische Gruppen unterstützt, doch China hat ohnehin größere Pläne.

Zum ersten Mal kam in dem Kurzkrieg im Mai auf pakistanischer Seite eine große Zahl chinesischer Waffen zum Einsatz, so etwa der J-10-Kampfjet, der in Kooperation mit Pakistan entwickelte Kampfjet JF-17, das Raketenabwehrsystem HQ9P, PL-15-Raketen sowie Hunderte von Drohnen. »Neben dem Einsatz chinesischer Militärtechnologie, Luftabwehr und satellitengestützter Aufklärung wurden die Bemühungen Pakistans deutlich, die Multi-Domain-Kriegführung des chinesischen Militärs nachzuahmen«, sagt Harsh Pant, Professor für internationale Beziehungen am King’s College in London.

China hat das Konzept der Multi-Domain-Kriegführung eingeführt, um seine konventionellen Fähigkeiten durch die Integration der Bereiche Information, Cybersicherheit und Weltraum für Kriegszwecke zu stärken. Durch gemeinsame Militärübungen mit Pakistan und die Zusammenarbeit in verschiedenen anderen Bereichen soll eine Interoperabilität erreicht werden, um gemeinsame Einsätze durchführen zu können. Ziel ist es, abgestimmte Verfahren und gegenseitige Abhängigkeiten so weit zu festigen, dass langfristig eine Austauschbarkeit erreicht wird.

Gleichzeitig deute die Präsenz des chinesischen Vermessungsschiffs »Da Yang Yi Hao«, das im Mai im Indischen Ozean auftauchte (und von dem vermutet wird, dass es unter dem Deckmantel der Forschung Spionage betreibt), auf eine umfassendere strategische Koordination hin. Für Indien rücke damit ein gefürchteter Zwei-Fronten-Krieg in greifbare Nähe. »Die militärische Zusammenarbeit zwischen China und Pakistan geht weit über die Logik geopolitischer Signale in der Zeit nach dem Kalten Krieg hinaus. Die Bedrohung für Indien ist unmittelbar, ernst und aktuell«, warnt Pant.

Indischer Ozean ist strategischer Faktor

Die Region des Indischen Ozeans ist ein wichtiger Seeverkehrskorridor, der Asien, Afrika und Europa verbindet. Indien empfindet Chinas wachsenden Einfluss im Indischen Ozean – der aus seinen strategischen Initiativen erwächst, darunter die Neue Seidenstraße, die Modernisierung des Militärs und Investitionen in die Infrastruktur – als Bedrohung. Für diese chinesische Strategie wird seit einiger Zeit der Begriff der Perlenkette verwendet. Gemeint ist ein Netzwerk militärischer und kommerzieller Einrichtungen und Beziehungen entlang der Seeverbindungswege, die sich vom chinesischen Festland bis nach Port Sudan am Horn von Afrika erstrecken.

Die Seewege verlaufen durch mehrere maritime Engpässe wie die Straße von Mandeb, die Straße von Malakka, die Straße von Hormus und die Straße von Lombok sowie andere strategische maritime Zentren in Somalia, Sri Lanka, Bangladesch und auf den Malediven. Viele indische Kommentator*innen vertreten die Auffassung, dass diese Strategie – zusammen mit dem China-Pakistan Economic Corridor und anderen Teilen der Seidenstraße – eine Bedrohung der nationalen Sicherheit darstelle, da es Indien umzingeln, seinen Handel und im schlimmsten Fall seine territoriale Integrität gefährden könne. Außerdem fürchtet Indien, dass China im pakistanischen Hafen Gwadar, der Teil des CPEC ist, einen Marinestützpunkt errichten könnte, der es Peking ermöglichen würde, Expeditionskriege in der Region des Indischen Ozeans zu führen.

Indien wird daher weiter in sein Militär investieren. Bereits jetzt hat das Land nach den USA, China und Russland das viertgrößte Rüstungsbudget weltweit. Der nächste Krieg wird vermutlich nicht lange auf sich warten lassen. Ministerpräsident Modi hatte am Ende der Operation Sindoor betont, dass der Waffenstillstand nur eine Pause darstelle. Jeder weitere Terroranschlag werde militärisch beantwortet. Die Lage bleibt also höchst angespannt.

Britta Petersen leitet das Regionalbüro der Rosa-Luxemburg-Stiftung in der indischen Hauptstadt Neu-Delhi.

nd-aktuell

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