Obdachlosigkeit in den USA | Elend und »Urbanität«
Los Angeles ist die inoffizielle »Hauptstadt« der Wohnungslosigkeit der USA. Die historische Downtown und insbesondere ihr östlicher Teil Skid Row sind für seine große Population obdachloser Menschen bekannt. In einer Nachbarschaft, die nur etwa 50 Häuserblocks umfasst, leben aktuellen Schätzungen der Stadtverwaltung zufolge etwa 3800 obdachlose Menschen. Als Grund dafür wird gerne das milde Klima der südkalifornischen Metropole bemüht. In L. A. sei es eben selbst in Winternächten nicht lebensbedrohlich kalt. Das habe die Stadt schon immer zu einem Magneten für Menschen gemacht, die auf der Straße schlafen müssen.
Tatsächlich aber haben unsichere Wohnverhältnisse und Obdachlosigkeit in Los Angeles eine lange Geschichte, die mit dem Wetter wenig zu tun hat. Bereits Anfang des 20. Jahrhunderts wird Downtown L. A. zu einem wichtigen Anlaufpunkt für Menschen ohne Wohnraum. Wohnungslose Wanderarbeiter*innen auf der Suche nach Jobs kommen hier mit der Eisenbahn an und finden günstige Unterkünfte in sogenannten SRO-Hotels (Single Room Occupancy), die monatsweise einfach ausgestattete Zimmer vermieten. Auch karitative Organisationen siedeln sich zu dieser Zeit im Viertel an. Während der Großen Depression nimmt die Wohnungsnot erheblich zu. Für viele sind nun selbst die SROs zu teuer, Obdachlosigkeit ist die Folge.
Anders als andere Kommunen reagiert die regionale Verwaltung von L. A. nicht mit der Einrichtung von Notunterkünften, sondern mit dem Bau von Workcamps außerhalb der Stadt. So entstehen erste Elemente der »karzeralen« Landschaft, für die Kalifornien mit seinem riesigen Gefängnissystem bis heute bekannt ist: Räume der Einsperrung, Disziplinierung und Überwachung, die zur Regulation armer Bevölkerungsgruppen eingesetzt werden. 1933 wird mit dem Federal Transient Relief Service das erste wohlfahrtsstaatliche Programm auf den Weg gebracht, das obdachlose Menschen unterstützen sollte – ein heute kaum noch bekannter Bestandteil des New Deal. Auch in L. A. kommt es zum Aufbau von Hilfestrukturen.
Sichtbares Elend wird als authentische Urbanität zum Standortfaktor umgedeutet.
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In den Nachkriegsjahren verliert Downtown L. A. im Zuge der Deindustrialisierung an Bedeutung. Durch die autogerechte Zersiedelung der Metropole in endlose Suburbs büßt die historische Downtown auch ihren Charakter als Zentrum ein. Viele Angelenos besuchen ihre Innenstadt nie. Auch deshalb bleibt Skid Row ein Anlaufpunkt für Menschen auf der Suche nach günstigem Wohnraum. Was sich mit der Zeit ändert, ist deren soziale Zusammensetzung: Der Anteil schwarzer Menschen in Obdachlosigkeit nimmt stetig zu. Hintergrund sind diskriminierende Praktiken der Wohnungs- und Immobilienkreditvergabe, die schwarze US-Amerikaner*innen systematisch an der Eigentumsbildung und am Zugang zu Wohnraum, mitunter zu ganzen Stadtvierteln, hinderten. Dass schwarze Amerikaner*innen über weite Teile des 20. Jahrhunderts an der Eigentumsbildung gehindert wurden, während die weiße Arbeiter- und Mittelschicht mithilfe staatlicher Förderprogramme Wohlstand aufbauen und vererben konnte, ist ein zentrales Element des strukturellen Rassismus in den USA. Bis heute sind schwarze Menschen überproportional von Wohnungsnot und Obdachlosigkeit betroffen. In L. A. etwa liegt der Anteil obdachloser schwarzer Menschen seit Jahren bei über 30 Prozent, obwohl sie lediglich 9 Prozent der Stadtbevölkerung ausmachen.
Nach Jahren des Niedergangs nimmt das Interesse an Immobilien in Downtown in den 70er Jahren wieder zu, die Stadt fasst einen Redevelopment-Plan: Der westliche Teil Downtowns, der Central Business District, soll aufgewertet werden. Hier entsteht in den Folgejahren ein städtischer Raum, dessen Gestaltung Mike Davis treffend als »Festungsarchitektur« beschrieben hat. Gebäude und öffentliche Räume werden durch Mauern, Zäune, Überwachungstechnologie, Sicherheitskontrollen und defensives Design gegen unerwünschte Bevölkerungsgruppen abgeschottet. Gleichzeitig wird in der östlichen Downtown die berüchtigte »Containment«-Politik wirksam. Containment bedeutet Eindämmung und Einschluss. Hier heißt es konkret, dass die Stadt einen Großteil der Hilfeangebote auf einige wenige Blocks in Skid Row konzentriert. Einrichtungen werden hierher verlagert, obdachlose Menschen aus anderen Stadtteilen nach Skid Row verbracht.
Die 80er Jahre markieren zudem den Beginn einer massiven Kriminalisierung von Obdachlosigkeit. »Quality of Life«-Verordnungen verbieten Obdachlosigkeit faktisch, indem sie alle damit verbundenen Praktiken wie das Liegen, Sitzen, Zelten, Kochen etc. im öffentlichen Raum untersagen. 1986 wird das Schlafen auf der Straße in L. A. unter Strafe gestellt, um alle sichtbaren Zeichen von Obdachlosigkeit aus dem Central Business District zu verbannen. Die Hypersichtbarkeit von Obdachlosigkeit, die Skid Row seither prägt, ist Ergebnis von Kriminalisierung, Containment-Politik und den damit verbundenen Kapitalinteressen.
Ab der Jahrtausendwende erlebt Downtown eine weitere »Renaissance«, nun im Bereich Wohnimmobilien, die auch den östlichen Teil der Innenstadt erfasst. Erneut wird der Prozess durch Inwertsetzungskoalitionen aus städtischen und immobilienwirtschaftlichen Akteuren vorangetrieben. Auf den ersten Blick wirken die neu entstehenden Wohnimmobilien anders als die festungsartige Architektur der 80er Jahre. In ehemaligen Fabrik- und Gewerbebauten aus dem frühen 20. Jahrhundert entstehen Lofts, die urbanen Flair inszenieren. Sie richten sich an eine Mittel- und Oberschicht, die sich vom standardisierten Wohnen in suburbanen Gated Communities abgrenzen will und im »Industrial Chic« ein Mittel sozialer Distinktion findet. Sichtbares Elend auf den Straßen wird als authentische Urbanität zum Standortfaktor umgedeutet.
Auf den zweiten Blick sind jedoch auch diese Wohnimmobilien von diskreter Sicherheitsarchitektur und Überwachungstechnologien geprägt. Der öffentliche Raum wird unterdessen mithilfe von Business Improvement Districts teilprivatisiert. In BIDs schließen sich private Eigentümer und Gewerbetreibende zusammen, um »ihr« Gebiet durch Dienstleistungen aufzuwerten. Kernelement sind eigene Sicherheitsdienste. Planen und Polizieren gehen Hand in Hand.
Ab 2006 beginnt mit der Hypotheken-Krise ein dramatischer Prozess der Enteignung von Hauseigentümer*innen, der Südkalifornien zum Ground Zero der globalen Finanzkrise macht. Betroffen sind insbesondere Schwarze und Latino-Haushalte, die zuvor von Banken in riskante Kreditverträge gedrängt worden waren, um ihre Eigenheime zu finanzieren. Viele Menschen verlieren ihr Zuhause durch Zwangsversteigerungen, oft von einem auf den anderen Tag. In manchen Stadtteilen stehen ganze Straßenzüge leer. Investmentfirmen kaufen die Immobilien in den Folgejahren auf und wandeln sie in teurere Mietwohnungen um, die sich viele Menschen nicht leisten können. Die Wohnungsnot in L. A. hat seither kaum abgenommen, was sich auch an der ungebrochen hohen Zahl obdachloser Menschen in Skid Row zeigt.
Downtown L. A. ist aber auch ein Ort der Widerständigkeit. Ihren maximal prekären Lebensumständen zum Trotz organisieren sich die obdachlosen Bewohner*innen. Ihre Zelte funktionieren sie dabei oft zu Protestarchitektur um. 1985 errichtet die Los Angeles Union of the Homeless eine Zeltstadt vor dem Rathaus, um gegen die »Quality of Life«-Verordnungen zu protestieren. 1986 mobilisiert die Gruppe auch gegen den Einsatz von defensivem Design in Downtown, vor allem gegen Wassersprenkleranlagen in Grünanlagen, die das Übernachten dort verhindern sollten. Etwa zur gleichen Zeit entsteht die Zeltstadt Justiceville in Skid Row, später auch das Love Camp und Dome Village. Letzteres kann sich von 1993 bis 2006 auf einer Brache halten, bis es schließlich geräumt wird.
Seit 1999 setzt sich LACAN, das Skid Row and Los Angeles Community Action Network, für die obdachlosen Bewohner*innen der Stadt ein. Anders als andere Menschenrechtsorganisationen in Downtown setzt LACAN konsequent auf Selbstorganisation – die Bewohner*innen von Skid Row bestimmen die Agenda, leiten Projekte und Kampagnen. Und das mit Erfolg: Mehrfach gelingt es, günstige Wohnungen und SRO-Unterkünfte in Downtown zu erhalten, für die der Abriss bereits geplant war. In den Folgejahren der Finanzkrise und während der Covid-Pandemie kommt es in L. A. zudem immer wieder zu Besetzungen, um Wohnraum für obdachlose Menschen zu schaffen.
Im August hat die US-Regierung angekündigt, Washington D. C. mithilfe von Nationalgardisten zu »befreien«. Im Visier standen die obdachlosen Bewohner*innen der Stadt, es kam zur Zerstörung von Zelten und zu Festnahmen. Ähnliche Pläne gibt es für weitere Großstädte wie Chicago, Portland, New York – und auch Los Angeles. Was ein solcher Einsatz für Skid Row bedeuten würde, ist ungewiss. Fest steht jedoch, dass Obdachlose immer schon zu den ersten Gruppen gehörten, die von Faschist*innen verfolgt wurden.
Nadine Marquardt ist Professorin für Sozialgeografie an der Universität Bonn.
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